• „Philanthrokapitalismus und die Aushöhlung der Demokratie“: Ein globaler Bürgerbericht

    Philanthropie als Deckmantel für ungezügelten Kapitalismus: Erstmalig zeigt ein Buch auf, wie einige Wenige Informationen und Politik für ihre Profite manipulieren – auf Kosten der Gesellschaft.

    BildDie indische Umweltschützerin und Globalisierungskritikerin Vandana Shiva hat zusammen mit Aktivisten, Forschern und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus allen Teilen der Welt ein Buch geschrieben, das die zunehmende Kontrolle von Technologie, Gesundheit und Landwirtschaft durch Konzerne und philanthropische Stiftungen unter die Lupe nimmt. Um die zwanzig Autorinnen und Autoren geben mit gut recherchierten Beispielen aus ihren jeweiligen Ländern und Tätigkeitsbereichen ein eindrückliches Bild dieses Phänomens, dessen Umfang und Einfluss noch weitgehend unterschätzt wird.

    Der heutige Philanthropismus hat mit seiner ursprünglichen Bedeutung (philos: „Freund“ – anthropos: „Mensch“) nicht mehr viel zu tun. Im Gegenteil, das „menschenfreundliche Denken und Verhalten“, wie der Begriff auf Wikipedia definiert wird, bezieht sich nunmehr eher auf das Generieren von Profiten, daher auch der Begriff Philanthrokapitalismus. Er kam 2006 in einem Artikel im US-amerikanischen Magazin The Economist zum ersten Mal auf und wurde fortan verwendet, um „die Intention des wohltätigen Gebens der Superreichen mit der Doktrin des wirtschaftlichen Denkens zusammenzuführen“ (Quelle: Philosophie Magazin).

    Das Prinzip dabei ist so einfach wie genial: Zu einem Problem (z. B. Erderwärmung) wird ein Lösungsmodell definiert (z. B. Verdunkelung der Sonne) und dieses dann konsequent – unabhängig vom Nutzen oder seiner Machbarkeit – verfolgt, indem zuerst große Summen für die Entwicklung „gespendet“ und dann zur Umsetzung Firmen beauftragt werden, die damit Gewinne erzielen. Dass diese Gewinne meist auch über sogenannte „öffentlich-private“ Allianzen durch Steuergelder mitfinanziert werden und die Wohltäter Aktien der beauftragten Firmen besitzen, ist ein für die selbsternannten Philanthropen äußerst erfreulicher, aber bis jetzt nur unzureichend diskutierter Nebeneffekt.

    Ziel verfehlt, Gewinn gemacht

    Das Buch „Philanthrokapitalismus und die Aushöhlung der Demokratie“ setzt genau hier an und listet anhand von konkreten Beispielen und Fallstudien weltweit auf, wie undurchsichtig und verfilzt diese Modelle konstruiert sind, welche Stiftungen, Organisationen und Akteure hinter den Kulissen beteiligt sind und vor allem, was die Ergebnisse dieser angeblich „menschenfreundlichen Lösungen“ sind und was sie tatsächlich bewirken. Oft wird das anfangs definierte Ziel weit verfehlt, doch die beteiligten Akteure machen ihr Geschäft. Den Schaden trägt die Gesellschaft.

    Das prominenteste Beispiel für misslungene Wohltätigkeit ist die von der Bill and Melinda Gates Foundation 2006 initiierte und auch von der Bundesregierung mitfinanzierte Grüne Revolution für Afrika (AGRA), die die Zahl der hungernden Menschen halbieren sollte, was nachweislich gescheitert ist (worüber auch DER SPIEGEL berichtete, der selber Fördermittel von der Gates Foundation erhielt). Deutlich wird dies unter anderem am Beispiel des kleinen Landes Malawi: 4,3 Millionen Dollar pumpte Gates in eines der vielen Programme von AGRA, um die Einführung marktorientierter Lösungen in der Landwirtschaft zu fördern. Nutznießer war dabei hauptsächlich Monsanto, dessen Landesmanager in Malawi zugab, dass „alle seine Herbizid- und Saatgutverkäufe über diese Plattform abgewickelt werden, mit einem Anstieg von 85% im Jahr 2007“, wie Nicoletta Dentico, Journalistin und Leiterin des globalen Gesundheitsprogramms der Society for International Development in einem ihrer Beiträge darlegt.

    Im Namen der Welternährung

    Nahrungsmittel sollten uns mit wichtigen Nährstoffen versorgen. Doch anstatt die Bodengesundheit zu verbessern, die unmittelbar damit zusammenhängt, sieht die Lösung der Philanthrokapitalisten anders aus: Technische Eingriffe in die Natur sollen auf künstliche Weise Nährstoffe in landwirtschaftliche Produkte einbringen. Interessanterweise werden dabei die gentechnisch veränderten Pflanzen jeweils dort umfassend eingeführt, wo ihre Sortenvielfalt traditionell bis jetzt am größten war: Gen-Mais in Mexiko, Goldener Reis in Indien, Bt Brinjal (Gen-Aubergine) in Bangladesch oder die GVO-Banane in Uganda, wie die verschiedenen Fallstudien dazu im Buch aufzeigen.

    Unter dem Vorwand, die Weltbevölkerung ernähren zu wollen, werden diese Laborkonstrukte gepusht, verfehlen jedoch ihr Ziel teils gewaltig: der „Goldene Reis“ zum Beispiel, der künstlich mit Vitamin A angereichert wird, ist nach Jahrzehnten der Forschung immer noch nicht ausgereift. Dabei könnte Vitamin A leicht durch den Anbau traditioneller grüner Blattgemüse ausreichend zu Verfügung gestellt werden, der aber durch die Industrialisierung der Landwirtschaft verdrängt wurde. Es bleiben Monokultur, steigende Pestizidbelastung, Zerstörung kleinbäuerlicher Strukturen, Armut.

    Biopiraterie, Patente und Macht

    Gentechnik ist unter den Philanthrokapitalisten besonders beliebt. Durch technologische Eingriffe werden Patente auf die Natur geschaffen, die zur Geldquelle für die Inhaber werden, unabhängig von deren Nutzen, ursprünglichem Ziel und tatsächlich resultierenden Realitäten und Risiken für Menschen und Ökosysteme. Saatgut oder auch ganze Pflanzen werden so zu Konzerneigentum, natürliche genetische Ressourcen werden zu Digitaler Sequenzinformation (DSI) und somit zur Ware und Geldquelle – sie gehören nicht mehr der Allgemeinheit, sondern Unternehmen und ihren Investoren.

    Ob Labornahrung, Medikamente, Impfstoffe, Saatgut oder GVO: mit Patenten und geistigem Eigentum werden Gewinne erzielt, nachdem die Markteinführung massiv durch enorme Summen gefördert wurde. Mit einem Stiftungsvermögen von über 50 Milliarden Dollar ist die Bill and Melinda Gates Foundation, in die auch Warren Buffet mit rund 30 Milliarden Dollar involviert ist, in der einzigartigen Lage, als Vermittler öffentlich-privater Allianzen aufzutreten. Diese sogenannten öffentlich-privaten Partnerschaften („public-private partnerhips“) fungieren dabei als trojanische Pferde und können die Finanzmärkte über zwischengeschaltete Investmentfonds umgestalten. Dadurch entsteht eine Macht, die sogar auf der regulatorischen Ebene ganzer Länder zu intervenieren vermag, so dass die Unternehmen unter rechtlichen und steuerlichen Bedingungen arbeiten können, die wenig oder gar nicht transparent sind und sich so einer demokratischen Kontrolle entziehen.

    Medien und Manipulation

    Mit Geld kann viel erreicht werden und noch viel mehr, wenn man sich damit auch die Unterstützung der Meinungsmacher unserer Zeit sichern kann. So listen die Berichte im Buch auch einige der Medien auf, die Gelder von philanthropischen Stiftungen erhalten, wie zum Beispiel The Guardian, El Pais oder Group Televisa in Mexiko. Auch in die Ausbildung von Journalisten wird investiert und das Kapital zudem genutzt, um gegnerische Stimmen durch großangelegte PR-Kampagnen mundtot zu machen oder zu diskreditieren.

    Resultat ist eine aus dem Ruder gelaufene, alles infiltrierende „Wohltätigkeitsindustrie“ außerhalb jeglicher Kontrolle mit teils verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt. Dabei werden auch demokratische Wege immer öfter umgangen und internationale Abkommen wie das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD) oder das Nagoya-Protokoll ausgehebelt. Ein Beitrag von Jonathan Latham, Mitbegründer und Direktor des Bioscience Resource Project und Herausgeber von Independent Science News, zeigt beispielsweise auf, wie die UNO durch Lobbyarbeit und extra engagierte PR-Firmen in Bezug auf die höchst umstrittenen Gene Drives manipuliert wurde.

    Digitale Schule und Geoenineering

    Geht es nach den Techno-Lösungen der Philanthrokapitalisten, so werden unsere Kinder in Zukunft nicht mehr in physischen Klassenzimmern in einer Gemeinschaft mit anderen und einem Lehrer von Angesicht zu Angesicht lernen, sondern allein vor einem Bildschirm, der die Aufmerksamkeit überwacht und Daten sammelt, zugunsten von Google, Microsoft und Amazon. Der Beitrag „Digitale Diktatoren“ von Satish Kumar, Gründer des englischen Schumacher College, fragt zu Recht: Wollen wir wirklich zulassen, dass die Zukunft unserer Kinder von Technologiekonzernen bestimmt wird? Oder sollten wir nicht eher in Menschen investieren, in mehr Lehrer, kleinere Klassengrößen und in eine „von unten nach oben ausgerichtete, phantasievolle, gutartige und angemessene Technologie“, die der Gesellschaft dient, anstatt sie auszusaugen.

    Möglich ist diese zutiefst unmenschliche Denkweise nur, wenn man sowohl Menschen als auch der Natur die Fähigkeit abspricht, selbst nachhaltige Lösungen zu schaffen, und die Technologie zu einer gottähnlichen Kraft erhebt. Dieses mechanistisch-reduktionistische Weltbild ist die Grundlage für die Hybris einiger weniger, die glauben, sie seien der Natur überlegen, wobei oft genug ganz handfeste Interessen dahinterstehen: So investieren zum Beispiel auch Ölkonzerne in die vermeintlichen „Klimalösungen“ des Geoengineering, um ihr Kerngeschäft weiterbetreiben zu können, anstatt endlich auf Erneuerbare Energien umzuschwenken.

    Ein notwendiger Überblick

    „Philanthrokapitalismus“ ist ein globaler Bürgerbericht, der in knapp dreißig Beiträgen das subtile und wenig sichtbare Netz von Stiftungen, Investoren, Programmen, Firmen und Einzelpersonen aufzeigt, das jedoch weit verzweigt ist und fast alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst. Ein Name zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die verschiedenen Themen: Bill Gates. Die Empfänger seines milliardenschweren Engagements finden sich inzwischen fast überall in Wirtschaft, Politik, Gesundheit, Bildung, der akademischen Welt, Medien und NGOs. Jeder Bericht bringt neue, noch unbekannte Namen ans Licht und lässt den Leser die Mosaikstücke zusammensetzen, um sich ein Bild über deren Einfluss und Auswirkungen machen zu können.

    Vandana Shiva, selbst Autorin einiger Beiträge, legt als Herausgeberin des soeben im Neue Erde Verlag erschienenen Buches einen umfassenden Überblick über diese neue Art der Kolonialisierung unserer Umwelt und unseres Lebens vor, den es in dieser detaillierten Form bis jetzt noch nicht gegeben hat. Es ist eine durch zahlreiche Daten, Fakten und Quellen gut fundierte Sammlung an Informationen, eine notwendige Anklage und eine eindringliche Warnung an die Weltgemeinschaft.

    Buchinfo

    Vandana Shiva (Hrsg.)

    Philanthrokapitalismus und die Aushöhlung der Demokratie

    Ein globaler Bürgerbericht über die Kontrolle von Technologie, Gesundheit und Landwirtschaft durch Konzerne 

    Klappenbroschur, 320 Seiten
    Neue Erde, März 2023
    ISBN 978-3-89060-835-8 

    Auch als E-Book erhältlich
    ISBN E-Book: 978-3-89060-389-6 

    Link zum Buch mit Leseprobe

    „In diesem außerordentlich wichtigen Beitrag entlarven Vandana Shiva und ihre Kollegen den Betrug des Herrschaftsparadigmas, das in die Spätphase der Zerstörung des Lebens, der Gemeinschaft und des geistigen Wohlbefindens unserer Kinder auftritt. Wir müssen uns gemeinsam gegen ein System wehren, das Reichtum und Macht konzentriert und es einigen wenigen Milliardären überlässt, so zu tun, als ob ihnen unser Wohl am Herzen läge.“  – Gail Bradbrook, Mitbegründerin von Extinction Rebellion

    Weitere Infos zur Herausgeberin: www.vandana-shiva.de

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    Neue Erde ist ein kleiner aber feiner Verlag mit Büchern „für Menschen, die auf dem Weg sind“. Gegründet 1984, hat er mehr als 350 Titel mit einer Gesamtauflage von über einer halben Million veröffentlicht. Europaweiter Vertrieb von vielfach übersetzten Titeln. Übersetzung und Herausgabe von internationalen Titeln in deutscher Sprache. Spezialisiert auf die Themenbereiche Lebenskunst, Spiritualität und Umweltschutz. Eigener Onlineshop: www.neueerde.de

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